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Akademischer Antisemitismus an deutschen Universitäten – wissenschaftliche und praktische Perspektiven

Tagung mit Hanna Veiler (JSUD), Prof. Dr. Friederike Lorenz-Sinai, Prof. Dr. Martin Heger, Dr. Dennis Wutzke und Jahne Nicolaisen (MFFB)

Wann? Donnerstag, 2. Mai, 14-18 Uhr.
Wo? FU Berlin, im Hörsaal B, Henry-Ford-Bau, Garystr. 35.

Eine Tagung vom Mideast Freedom Forum Berlin (MFFB) und Chaverim@FU – Netzwerk für jüdische Themen.

Um Anmeldung unter seminar@mideastfreedomforum.org wird gebeten.

Grußworte von MFFB und Chaverim@FU und Prof. Dr. Alexander Libman

Der Bericht zur Tagung findet sich hier

TEIL 1
14-15.45 Uhr „Eine kritische Theorie der Wissenschaftsfreiheit gegen akademischen Antisemitismus“ – Vortrag von Jahne Nicolaisen

Basierend auf seiner Masterarbeit[1] wird Jahne Nicolaisen zunächst auf den Begriff des akademischen Antisemitismus eingehen und dann erläutern, wie sich Antisemitismus an das akademische Feld anpasst und dabei Wissenschaftsfreiheit begehrt, verachtet und bedroht. Anschließend wird er seine zentralen Thesen seiner Skizze einer kritischen Theorie der Wissenschaftsfreiheit vorstellen. Dabei werden mit Bezug auf Adorno und Horkheimer u.a. folgende Fragen behandelt: Warum scheitert die institutionelle Selbstregulierung der Wissenschaft regelmäßig? Was heißt es für eine kritische Theorie, dass nicht jeder Form des Antisemitismus gleichermaßen widerstanden wird? Was bedeutet die systemische Reproduktion des Antisemitismus für liberale Theorien, die auf den Rechtsstaat, auf mündige und demokratische BürgerInnen sowie auf die universitäre Selbstregulierung setzen? Welche Stellung haben humanistische akademische Normen und die akademische Strukturprinzipien (Merton) in einer kritischen Theorie der Wissenschaftsfreiheit? Welche theoretischen Konsequenzen sind daraus zu ziehen, dass sich Antisemitismus auch im freien wissenschaftlichen Meinen reproduziert? Und auf welche Subjektivität ist die formale Freiheit zur Wissenschaft angewiesen?

  • Jahne Nicolaisen arbeitet als Programmdirektor im Projekt „Bildungsbaustein Israel“ und zu den Themen Antisemitismus, Islamismus und Rechtsextremismus beim Mideast Freedom Forum Berlin (MFFB). Seine Masterarbeit in Politikwissenschaft hat er 2023 an der Freien Universität Berlin geschrieben, in der er eine kritische Theorie der Wissenschaftsfreiheit gegen Antisemitismus skizziert. Nicolaisen ist auch Mitglied der Hochschulgruppe Chaverim@FU – Netzwerk für jüdische Themen.

Mit einem Kommentar von Dr. Dennis Wutzke

  • Dr. Dennis Wutzke war im Wintersemester 2023/24 zum dritten Mal Gastprofessor für Kritische Gesellschaftstheorie an der JLU Gießen. Er ist seit 2012 Lehrbeauftragter für politische Theorie an der Freien Universität und war 2013-17 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Philosophie in Rostock, 2020-21 für Politikwissenschaft in Berlin.


TEIL 2
16:15-18 Uhr „Für ein freies wissenschaftliches Arbeiten und Studieren – Problematik & Maßnahmen gegen Antisemitismus an deutschen Hochschulen“ – Podiumsdiskussion mit Hanna Veiler (JSUD), Prof. Dr. Friederike Lorenz-Sinai und Prof. Dr. Martin Heger

Ziel ist es, unterschiedliche (wissenschaftliche) Perspektiven aus der Forschung zu Antisemitismus, Wissenschafts- und Studierfreiheit, universitärer Bildung sowie aus der eigenen Erfahrung zusammenzubringen. Des Weiteren möchten wir die gegenwärtige Problematik des akademischen Antisemitismus in Deutschland analysieren und spezifische Maßnahmen sowie indirekte Praktiken gegen Antisemitismus an deutschen Hochschulen diskutieren.

  • Hanna Veiler ist Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) seit Mai 2023 und erfährt als solche die alarmierende Lage an deutschen Hochschulen für jüdische Studierende tagtäglich. Sie spricht als repräsentative Vertreterin über mögliche Gegenmaßnahmen und das aktuelle jüdische Campusleben in Deutschland. Seit 2018 studiert sie Kunstgeschichte in Tübingen. Außerdem gibt sie als politische Bildnerin Workshops und Vorträge zu Antisemitismus, Rassismus, postsowjetischer Geschichte und kritischer Erinnerungskultur. Interviews mit bzw. Artikel von ihr erschienen zuletzt in zahlreichen deutschen Medien bzw. auf Instagram (hannaesther__).
     
  • Prof. Dr. Friederike Lorenz-Sinai ist Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit und Sozialarbeitsforschung an der Fachhochschule Potsdam und Vorstandsmitglied von „OFEK e.V. – Beratungsstellen bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung“. Zu ihren aktuellen Forschungsschwerpunkten zählen Antisemitismus in institutionellen Kontexten sowie (sexualisierte) Gewalt und soziale Prozesse der Aufarbeitung. Sie leitet mit Marina Chernivsky an einem gemeinsamen Forschungsbereich der Fachhochschule Potsdam und des „Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung“ Studien zu Antisemitismus in Schulen und der Polizei. Im Februar starteten sie das von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes geförderte Forschungsprojekt zu „Auswirkungen des Terrors vom 7. Oktober 2023 auf jüdische und israelische Communities in Deutschland“. Einen Einblick in die Arbeit mit Hochschulen gegen den aktuellen Antisemitismus gibt folgendes Interview mit ihr und Marina Chernivsky: https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/limitiertes-verstaendnis/ (24. März 2024)
  • Prof. Dr. Martin Heger ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Europäisches Strafrecht und Neuere Rechtsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Aktuell forscht er im Verbundprojekt „Struggling for Justice. Antisemitismus als justizielle Herausforderung“ (ASJust). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen das deutsche und europäische Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht, Fragen der Kriminalpolitik, das Verhältnis von (Straf-)Recht zu Religion, Geschichte und Sport, der Einfluss von Europa- und Verfassungsrecht sowie der EMRK auf das Strafverfahrensrecht sowie Aspekte des Opferschutzes. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft (BWG), Mitglied im Berliner Institut für Islamische Theologie (BIT), im Wissenschaftlichen Beirat des Rabbinerseminars zu Berlin und seit 2009 Sprecher der Berliner Studien zum Jüdischen Recht (BSJR). Im April 2024 erschien von Heger ein Artikel über „Antisemitismus als Herausforderung für das bundesdeutsche Strafrecht. Ein juristisch-historischer Blick ‚zurück in die Zukunft‘“ in dem Band „Antisemitismus und Recht. Interdisziplinäre Annäherungen“ (hg. von Christoph Schuch).

Bericht zur Tagung 

Teil 1: Vortrag und Kommentar 

Prof. Dr. Alexander Libman (FU Berlin), Dr. Ulrike Becker (MFFB) und Rahel (Chaverim@FU) begrüßten die rund 50 TeilnehmerInnen der Tagung „Akademischer Antisemitismus – wissenschaftliche und praktische Perspektiven“ am 2. Mai an der FU Berlin, die von MFFB, Chaverim@FU und Professor Libman organisiert wurde. Jahne Nicolaisen (MFFB/Chaverim@FU) eröffnete die Tagung mit dem Vortrag „Eine
kritische Theorie der Wissenschaftsfreiheit gegen Antisemitismus“. Nicolaisen skizzierte einige Elemente einer solchen kritischen Theorie: Erstens ist die Spezifik des akademischen Antisemitismus theoretisch und empirisch zu erfassen. Zweitens sollten liberale Normen, die institutionelle Praktiken der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland leiten, gegen ihre antisemitische Instrumentalisierung verteidigt werden. Drittens hat eine kritische Theorie zwischen den Polen des Wissenschaftsidealismus und der organisationskulturellen Neutralität eine wissenschaftliche Praxis auszubilden, die Kritik nicht bloß für den Betrieb funktionalisieren oder unmittelbare Praxisanweisungen aus ihr ziehen will, sondern die Kritik auf die eigenen wissenschaftlichen Formen, Institutionen und sozialen Bedingungen richtet. Eine kritische Theorie hat zu ergründen, warum die akademische Mehrheit bei akademischem Antisemitismus regelmäßig schweigt, ignoriert und relativiert (vgl. Offener Brief der „Hochschullehrenden gegen Antisemitismus auf dem Campus“ vom 7. April). Viertens würde eine solche kritische Theorie im Bewusstsein der gesellschaftlichen Negativität die akademische Freiheit „von innen heraus einüben“ (Horkheimer 1953). Fünftens gilt es, Adornos kategorischem Imperativ nach dem Nationalsozialismus und der Shoah gerecht zu werden, „ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (1966). Diese und weitere Elemente sind hier ausführlich nachzulesen: https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/42137 (Nicolaisen 2023).

Dr. Dennis Wutzke hob in seinem Kommentar erstens hervor, dass Nicolaisen versucht zu verstehen, wie sich dominante wissenschaftliche Selbstregulierungen (liberale „idealistische“ und wertneutrale „positivistische“) systematisch immun gegen akademischen Antisemitismus
machen – wie genau und warum, wäre noch präziser zu erforschen. Hierzu regte er einen Vergleich der Felder Wissenschaft und Kunst an, mit einer These zu deren aktivistisch-antisemitischen Tendenzen, wobei sich Akteure in beiden Feldern auf negative Abwehrrechte berufen, aber in der eigenen Praxis das vorab tilgen, was diese Rechte doch ermöglichen sollen: „Wissenschaft als Aktivismus ist so wenig ergebnisoffen wie ein rein aktivistisches Kunstwerk Träger von ästhetischer Eigenqualität und Mehrdeutigkeit“. Zweitens betonte Wutzke, dass Nicolaisen überzeugend zeigt, dass „akademischer Antisemitismus – auch und gerade der israelbezogene – in seiner antagonistischen, spaltenden Vorentschiedenheit selbst ein massiver Angriff auf Wissenschaftsfreiheit ist“ – allerdings dann kritisch fragte, welchen analytischen und praktischen Wert der Hinweis auf Selbstwidersprüche des akademischen Antisemitismus hat. Drittens regte er an, die späte Kritik Adornos am Aktivismus, an „Pseudo-Aktivität“ und fetischisierter Praxis einzubeziehen, um den antisemitischen Aktivismus auf dem Campus zu verstehen. Viertens mahnte Wutzke zur Vorsicht, die „triftige radikale Frankfurter Reflexion auf die Irrationalität kapitalistischer Gesellschaft“, die Antisemitismus als „regressive Revolte“ (Grigat) immer wieder hervorbringt, nicht in einen Verbalradikalismus abgleiten zu lassen, der keine Unterschiede mehr zwischen autoritären Regimen, massenmörderischen Terrorgruppen und demokratischen, liberalen Staaten macht. Adorno und Horkheimer hat die Kritik an der Unvernunft der Gesellschaft „weder theoretisch noch biographisch zur Verachtung bürgerlicher Freiheiten geführt, sondern zum vertieften Wissen um deren Gefährdung“.

Mit folgender abschließender These knüpfte Wutzke seine eigenen Gedanken zum Schlechtwerden linker Gesellschaftstheorie an (vgl. die Veranstaltung "Wenn Kritik schlecht wird" vom 13. April in Gießen): „Um zu verstehen, wie Antisemitismus sich wissenschaftlich kompatibel macht, müssen wir nachvollziehen, was aus ‚Kritik‘ geworden ist. Aber: Wer Judenhass äußert, hat nicht einfach kritische Sozialphilosophie falsch verstanden oder schlechte Theorien gelesen“. Damit ging es in die Diskussion mit dem Publikum und schließlich in die Pause.

Teil 2: Podiumsdiskussion

Danach startete die Podiumsdiskussion (Titel: „Für ein freies wissenschaftliches Arbeiten und Studieren“) mit Hanna Veiler (JSUD), Prof. Dr. Martin Heger (HU Berlin) und Prof. Dr. Friederike Lorenz-Sinai (FH Potsdam) über die Problematik des akademischen Antisemitismus und der zentralen Frage, was dagegen getan werden sollte.
Hanna Veiler von der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands beschrieb, wie alltäglich jüdische Studierende von ihren Hochschulleitungen in der Mehrheit allein gelassen werden, wenn sie Antisemitismus kritisieren. Viele jüdische Studierende haben Angst überhaupt auf den Campus zu gehen. Veiler kritisierte, dass es zu wenig Monitoring, zu wenig Forschung und zu wenig Wissen über Antisemitismus in der allgemeinen Bevölkerung, aber auch an Hochschulen gäbe.

Sie stellte heraus, dass die Hochschulleitungen letztlich in der Verantwortung sind. Teilweise müsse sie denen Basics der Antisemitismusforschung erklären. Einige Leitungen reagierten nach dem 7.10. allerdings vorbildlich – die Mehrheit nicht: Der universitäre Umgang mit Antisemitismus ist zumeist von chaotischen ad-hoc-Reaktionen geprägt, der Betroffene meistens nicht ernst nimmt und viel zu oft überrascht ist, dass es dort überhaupt Antisemitismus gibt. Es fehle ein Protokoll, was zu tun ist, wenn es einen antisemitischen Vorfall gibt. Es brauche daher verpflichtende Fortbildungen von Hochschulangehörigen – insbesondere der Lehrenden – zu Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen, vor allem zum israelbezogen Antisemitismus, da dieser am häufigsten an deutschen Universitäten auftritt. Wie in Unternehmen bestimmte Fortbildungen für Mitarbeiter:innen normal sind, müsse es an Universitäten auch normal werden, eine Fortbildung zu Antisemitismus zu absolvieren, wer dort arbeiten möchte.

Auch für die Lehramtsausbildung fordert sie verpflichtende Kurse. Die Diskussionen um Wissenschaftsfreiheit dienten in der Regel einer Diskursverschiebung, die Antisemitismuskritik abwehrt – auch bei Sexismus oder Rassismus verhalte es sich ähnlich. Auch die von Berliner ASten und antisemitischen Gruppen vorangetriebene Debatte um die Wiedereinführung des Ordnungsrechts an Berliner Hochschulen „rückte die antisemitische Tat gegen Lahav Shapira schnell aus dem Fokus“, während ignoriert wurde, dass es bis 2021 ein Ordnungsrecht gab, dass seltenst zur Exmatrikulation geführt hatte. Dem Einwand, das Gesetz lade zum Missbrauch ein, insbesondere wenn die AfD an die Macht komme, entgegnete sie, dass bei einer AfD-Regierung „wir alle sowieso am ***** sind“. Die Reaktionen nach antisemitischen Gewalttaten würden sich zu schnell von dem Problem Antisemitismus auf die repressiven Maßnahmen von Behörden verschieben, um so vom Problem abzulenken. Bezüglich des Umgangs der FU Berlin mit dem antisemitischen Angriff auf Lahav Shapira kritisierte sie, dass das erste Statement den Antisemitismus nicht klar benannte und jüdische Studierende plötzlich das antisemitische Motiv beweisen mussten. Tagelang wurde stattdessen über einen vermeintlichen „Streit“ verharmlosend in den Medien geredet. Insgesamt stellt sie fest: Universitäten interessiert als allererstes ihre Reputation. Viele handelten daher dann erst, wenn Medien berichten.

Sie kritisierte an der FU, dass der Antisemitismusbeauftragte der FU nicht mit Namen in der Öffentlichkeit steht, sondern anonym bleibt, während sich jüdische Studierende der FU verstecken – anders als an der HU, wo die Beauftragte Prof. Feierstein bekannt ist. Schließlich sagte Veiler, dass es im Kampf gegen Antisemitismus auf dem Campus, z.B. in Studierendenparlamenten, vor allem wichtig ist, die moderaten oder unentschiedenen Bystander zu überzeugen, da radikalisierte Gruppen mit geschlossenem Weltbild in der Regel nicht mehr zu erreichen sind. Sie sagte, dass man ohne eine verpflichtende Schulung zu israelbezogenem Antisemitismus, von Studierendenparlamenten nicht viel zu erwarten habe.

Prof. Dr. Friederike Lorenz-Sinai von der Fachhochschule Potsdam und von „OFEK – Beratungsstellen zu antisemitischer Gewalt und Diskriminierung“ verglich in ihren Beiträgen den Umgang in den Institutionen Polizei, Schule und Universität. Sie hob hervor, dass qualitative Studien zur Wahrnehmung von und zum Umgang mit Antisemitismus von Hochschullehrenden fehlten – und es ist heute kein lebendiger Bestandteil des Professionsverständnisses.

Das Problem an Hochschulen ist, so Lorenz-Sinai, dass elementare Grundsätze der Betroffenenberatung und -unterstützung beim Thema Antisemitismus – anders als bpsw. bei sexualisierter Gewalt – nicht eingehalten werden: So müsse der volle Name von Antisemitismusbeauftragten den Betroffenen zugänglich sein; Betroffene sind ernstzunehmen. Da viele antisemitische Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze fallen, sind solide Meldestrukturen für Betroffene elementar. Probleme der aktuellen Meldestrukturen seien eine Dominanz der Beweis- und Quantifizierungslogik und ein mangelndes Verständnis, was Antisemitismus ist. Stattdessen brauche es Schulungen zur Sensibilisierung zu Antisemitismus. Im Vergleich zu anderen Institutionen wie Schule und Polizei machte Lorenz-Sinai deutlich, dass das Thema Antisemitismus in einer stark selbstverwalteten Institution wie der Hochschule zwischen den Polen Tabuisierung und Omnipräsenz schwanke und sich Beauftragtenpositionen oft erst Sichtbarkeit und Legitimität organisieren müssten. Charakteristisch für die institutionelle Logik sei zudem, dass Hochschulen Orte der offenen Debatte sind, wovon aktuell wieder israeldämonisierende Haltungen profitieren, wenn diesen Haltungen erwartungsgemäß scharf widersprochen wird, wodurch sich erstere wiederum in ihrem Selbstbild als widerständig und rebellisch bestätigt sehen und Fachbereiche/Fakultäten nicht sofort sehen würden, dass es um Gewalt- und Diskriminierungsschutz geht und nicht um Meinungsfreiheit.
Entscheidend sei, die bestehenden Meldestrukturen besser auszubilden. Zusätzlich braucht es ergänzend Vertrauensdozierende und externe Beratungsstrukturen.
Hochschulen müssten mit den Betroffenen ein institutionelles Schutzkonzept erarbeiten, das Teilhabe für jüdische Studierende präventiv ermöglicht und Handlungsschritte bei Interventionen und etwaigen Sanktionen festlegt. Zentral ist es, dass ein Schutzkonzept unabhängig von den Intentionen der antisemitisch Handelnden aufgebaut wird: es braucht eine Trennung von den Auswirkungen von als antisemitisch erfahrenen Demos, Aktivitäten et cetera einerseits und der Intention, mit der Personen daran teilnehmen, andererseits.
Wenn jüdische Studierende oder Lehrende sich wehren wollen, sei es wichtig, sich Verbündete zu suchen und direkt an die Leitung zu gehen, da diese letztendlich verantwortlich ist. Zudem empfiehlt sie, externe Beratung, wie z.B. bei OFEK, zu suchen und gemeinsam mit der Leitung Schutzkonzepte zu entwickeln. Beim Fall Lahav Shapira zeigte sich ihr zufolge, dass das systematische Online-Mobbing mit Feindmarkierungen in Hochschulräumen begann und sich bis hin zu der Gewalttat radikalisierte. Nicht nur er, sondern auch seine Familie wurde medial exponiert und in der Debatte vollzog sich eine Täter-Opfer-Umkehr.

Prof. Dr. Martin Heger – ein Jurist – sagte gleich zu Beginn, es mit der "Juristerei" nicht zu übertreiben: Man müsse nicht alles tun, was man rechtlich darf. Der juristischen Komponente müsse eine ethische beiseitegestellt werden. Hochschulen und Wissenschaftler hätten die Möglichkeit, antisemitisches Verhalten unterhalb der Strafbarkeitsgrenze zu sanktionieren, indem sie es ethisch begründen.

Zur Debatte um die Wiedereinführung des Ordnungsrechts an Berliner Hochschulen gefragt, nannte er drei Gründe, warum schnell von der antisemitischen Tat abgelenkt und durch Berliner ASten und verschiedene Hochschulgruppen die Wiedereinführung „wie ein Teufel an die Wand gemalt“ wurde: Erstens seien zahlreiche ASten eben sehr links und bedienten ein bestimmtes Klientel; zweitens instrumentalisieren bestimmte israelfeindliche studentische Gruppen die politische Debatte für ihre eigene Agenda; und drittens, so vermutet Heger, fürchten einige AStA-Mitglieder wohlmöglich selbst, zur Zielscheibe des neuen Ordnungsrechts zu werden. Dabei ist das Ordnungsrecht gar nicht so neu: 2021 wurde es abgeschafft, nachdem es vorher über Jahrzehnte ohne Probleme funktioniert habe. Zur Frage, ob es nun eine "Paralleljustiz" gebe, sagte Heger, "ein bisschen schon", allerdings gebe es sowohl hochschul- als auch strafrechtliche Konsequenzen ebenfalls bei Vergewaltigungen oder anderen Straftaten. Ferner gebe es Sanktionsmöglichkeiten im Hochschulrecht auch in anderen Fällen jedes Semester, z.B. wer seine Semestergebühren nicht zahlt, wird exmatrikuliert. Dass nur bei dem Thema Antisemitismus plötzlich eine Kampagne gegen das Ordnungsrecht startet, zeigt einen absurden Doppelstandard an.
Heger kritisierte des Weiteren, dass Antisemitismus auch unter Kollegen in der Rechtswissenschaft beständig banalisiert werde. Zur Frage, wann das Recht überhaupt helfen kann, sagte er, dass es dann helfe, wenn es dafür eingesetzt werde, wofür es geschaffen wurde. Er kritisierte auch, dass das Synagogenanzünden von einem Gericht in Wuppertal (2014) nicht eindeutig als antisemitisch eingestuft wurde. Auch vor Gerichten gebe es eine fatale Tendenz zur Banalisierung. Heger empfahl, dass es Antisemitismusbeauftragte an Gerichten brauche, um die Spezifik zu erfassen. Für eine künftige proaktive Herangehensweise in der Rechtswissenschaft empfiehlt er, Antisemitismus, jüdische Religion und jüdisches Recht zu einem wichtigen Forschungsthema zu machen, zu dem sich dann unterschiedliche (rechts)wissenschaftliche Perspektiven finden lassen würden.
Zur Frage, ob der Vernichtungsaufruf gegen einen anerkannten Nationalstaat eine Straftat werden sollte, äußerte sich Heger vorsichtig: Es dürfe kein Sondergesetz geschaffen werden, auch wenn es stimmen würde, dass in Deutschland fast nur gegenüber Israel Vernichtungsaufrufe getätigt werden. Auch wäre es politisch heikel, nur in Deutschland anerkannte Nationalstaaten einzubeziehen, da dann zur Vernichtung Palästinas ohne strafrechtliche Konsequenzen aufgerufen werden könnte. Abschließend sagte Heger zum Unterschied von HU und FU im Umgang mit Antisemitismus, dass es bei der FU ganz klar an der Leitung, dem aktuellen Präsidenten, liege. Er habe die Letztverantwortung und komme dieser nicht nach.


[1] Masterarbeit Nicolaisen: https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/42137